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Der Chip im Ball, Männermagazin GQ November 2004

von Torsten Geiling

Der Fußballgott wird sich gewundert haben, als er kürzlich auf das Dach des Fraunhofer-Instituts in Erlangen blickte. Dem Himmel nahe traten dort neonlichtbleiche Wissenschaftler einen Ball, als liege in seinen unergründlichen Wegen die Formel versteckt, die  Deutschland 2006 zum Weltmeister machen könnte. In Wahrheit zirkulierte der Ball zwischen den  international gefragten Ingenieuren aus einem noch verwegeneren Grund: Die Forscher wollen den Fußball ins Digitalzeitalter schießen – und den zuständigen Ressort-Gott seiner Allmacht berauben.

Die Keimzelle des Aufstands gegen schicksalhafte Abseitspfiffe und falsche Torentscheidungen bildete sich 43 Jahre nach dem Tor von Wembley, das Deutschland 1966 den WM-Titel kostete. Fußballgeschichte, die sich im Kleinen millionenfach wiederholt. 1999 legte sich der verlängerte Arm des Fußballgottes auf dem Platz mit dem Falschen an: Hartmut Braun, Vorstandvorsitzender der Karlsbader Cairos AG, ärgerte sich bei einem Altherrenkick des ATSV Mutschelbach so über die Zufallspfiffe des Schiedsrichters, dass er beschloss, sein Unternehmen in den Dienst der Gerechtigkeit zu stellen. Braun passte den Ball ans Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen, wo im Auftrag von Cairos ein Team aus 60 Chipexperten seit vier Jahren an einem revolutionären Ball- und Spieler-Ortungssystem bastelt, das vielleicht schon zur kommenden Bundesligasaison, sicher aber bei der WM 2006, eingesetzt werden soll. Der Glaubenssatz, Abseits sei immer dann, wenn der Schiedsrichter pfeift, könnte bald so lächerlich klingen wie die These, der Ball sei eine Scheibe.

Unterm Dach des Fraunhofer-Instituts wendet René Dünkler aus der Abteilung „Hochfrequenz- und Mikrowellentechnik“  ein scheckkartengroßes Stück Zukunft in den Händen. Darauf leuchtet golden ein Chip so groß wie eine Briefmarke. Die Plastikkarte wird in einem Schienbeinschoner versteckt und sendet während eines Spiels mehrere hundert Mal pro Sekunde Positionsdaten, die von Antennen am Spielfeldrand aufgefangen und im Zentralcomputer erfasst werden. Ist jeder Spieler mit dem Chip „verwanzt“, lassen sich Abstände und die imaginäre Abseitslinie zentimetergenau errechnen. Im Nürnberger Frankenstatdion ist das System bereits installiert und wird erfolgreich getestet.

  Außerdem ruht im Fraunhofer-Institut in einem schreinartigen Glaskasten das Zentrum aller Bemühungen: der Ball. Im Innern trägt er einen Chip, der 2000 Mal pro Sekunde in alle Richtungen Positionsdaten abstrahlt. Während eines Spiels kann der Zentralcomputer die Daten des Balls, der Fußballer und der Spielfeldlinien vergleichen und dem Schiedsrichter Signale auf seine Armbanduhr funken: Ausball, Ecke, Abseits, Tor. Das System bedeutet eine digitale Totalüberwachung, das Fußballspiel wird gläsern.

DFB-Schiedsrichterlehrwart Eugen Striegel bekundete bereits Interesse: „Wenn das System hundertprozentig funktioniert, stehen wir dem als Schiedsrichter positiv gegenüber.“

Für Cairos ist der elektronische Schiedsrichterassistent nur noch ein prestigeträchtiges Abfallprodukt. „Wenn die Fifa oder der DFB das System nutzen wollen, dann freuen wir uns. Damit lässt sich aber kein Geld verdienen”, sagt Marketing-Chef Oliver Braun. Für das Unternehmen, das rund zehn Millionen Euro in die Entwicklung investiert hat, sind andere Kunden attraktiver: die Medien. Für den Datenhunger des Fernsehens bietet die Technik viel Futter. Noch werden Ballkontakte, Zweikämpfe und Pfostenschüsse personal- und kostenintensiv von Spielerbeobachtern gezählt. Das neue System liefert mehr und genauere Daten. So können die Zuschauer in Echtzeit erfahren, wenn beispielsweise Kevin Kuranyi einen Ball per Direktschuss von 21 auf 118 km/h beschleunigt, ihm einen Linksdrall von 1,8 Umdrehungen pro Sekunde verpasst und den rechten Pfosten um 3,9 Zentimeter verfehlt. Matthias Sammer, Trainer des VfB Stuttgart, macht sich bereits sorgen: „Ich hoffe nicht, dass die Medien das ausschlachten und zur Halbzeit den faulsten Spieler küren“. Andererseits profitieren Trainer davon, genauere Aussagen über Laufwege, Tempo und Beschleunigung ihrer Profis im Spielverlauf machen zu können. Vielleicht  finden Forscher im Fußballdatenwust irgendwann auch eine Formel für das perfekte Spiel – und leiten sie an Jürgen Klinsmann für das Projekt „WM-Sieg 2006“ weiter.

Die Cairos-Manager träumen dagegen von der Transplantation ihrer Chips in andere Sportarten: Mit Systemen für Football, Baseball, Basketball und Golf ließe sich der nach Statistiken gierende US-Medienmarkt erobern. Auch in völlig anderen Bereichen soll die Technik eingesetzt werden. „Das System ist überall gefragt, wo sich Objekte bewegen, teuer sind oder schnell wegkommen“, sagt Dünkler. Erste Tests zur Gepäcküberwachung am Flughafen und zur Sicherung von Gebäuden und Personen sind bereits gelaufen. Beim nächsten Kick auf dem Fraunhofer-Dach sollten sich die hüftsteifen Forscher selbst absichern: Dass sie bei ihren Tests noch nicht vom Dach gefallen sind, verdanken sie wohl kaum der Gnade des Fußballgottes.

 

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