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Selbsfindung im hohen Norden, Die Zeit

von Torsten Geiling

Es ist große Pause an der Fana-Folkehogskole in Store Milde, einem Ort in der Nähe von Bergen in Norwegen. Zwischen den weiß gestrichenen Holzgebäuden eines Gutshofes aus dem 18. Jahrhundert diskutiert der 19-jährige Issam Al Bittar mit Freunden ein Projekt, das sich mit der Umweltzerstörung beschäftigt. Tonje K. Pettersen, eine blonde Norwegerin mit strahlend blauen Augen, Latzhose und in Badeschlappen, trägt ihre Gitarre, auf der sie eben noch gezupft hat, über den Hof.

Die Schüler hier sind im Durchschnitt 19 Jahre alt, ihre Schulzeit haben sie eigentlich schon hinter sich. Dennoch begeben sie sich freiwillig für 33 Wochen in ein Internat, in dem man mit einem Mitschüler in einem Doppelzimmer leben muss. Unterrichtet wird auch an drei Samstagen im Monat. Noten gibt es keine, dafür erhalten die Schüler am Ende auch nur ein Anwesenheitszertifikat.

Folgt man dem Urteil der Schüler von heute, ist Grundtvigs Konzept aufgegangen. "Ich habe viel über mich selbst gelernt, eigene Stärken und Schwächen entdeckt", sagt Tonje. "Wir leben hier in einer eigenen kleinen Gesellschaft", fügt Issam hinzu, "in der Schüler und Lehrer einander helfen. Der Mensch an sich steht an unserer Schule im Mittelpunkt."

Heutzutage gibt es rund 400 Folkehogskolen in den Ländern Nordeuropas, davon 84 in Norwegen. Geleitet werden sie von christlichen, privaten oder staatlichen Trägern und Stiftungen. Unterkunft und Verpflegung kosten für ein Unterrichtsjahr rund 11 000 Mark. Hinzu kommen Ausgaben für Lernmaterial, Bücher oder Ausflüge. Als Bürger eines EU-Landes kann man sich um ein Stipendium vom norwegischen Staat bewerben.

Unterricht in Philosophie bei Jostein Gaarder

Es sind vor allem die ausgefallenen Unterrichtsfächer, welche eine Folkehogskole auszeichnen. Das Angebot dieser Fächer ist für die meisten Schüler ausschlaggebend für eine Anmeldung. Ganz im Norden Norwegens, im Grenztal zu Finnland und Russland, liegt beispielsweise die Svanvik Folkehogskole, an der man sich mit der Geschichte der Barentregion befasst. In Ål können Hörende zusammen mit Gehörlosen und Schwerhörigen die Gebärdensprache erlernen. Andere Schulen bieten Luftfahrt (mit Flugunterricht), Sprachen, Handwerk und Möbeldesign, Musikunterricht, Fallschirmspringen, Hauswirtschaft, Reiten, Auto und Motor, Tanz oder Informatik an.

Obligatorisch für alle Schüler ist an der Fana-Folkehogskole der Schulchor, der Unterricht in Philosophie, Kunst und Gesellschaft. Bis vor einiger Zeit hatte ein bis dahin unbekannter junger Lehrer den Schülern die Ideen von Sokrates, Kierkegaard oder Kant näher gebracht. Sein Name: Jostein Gaarder.

Früher seien die Schüler aus der Umgebung mit dem Pferdewagen und dem Boot nach Milde gekommen, berichtet der Rektor Kåre H. Borge. Heute würden sie aus ganz Skandinavien, Europa, ja aus der ganzen Welt einfliegen. Issam etwa kommt aus dem Libanon. "Aus Deutschland haben wir diesmal niemanden", sagt Borge und zeigt auf den Klassenfotos der letzten Jahre, dass dies eine Ausnahme ist. Im vergangenen Jahr waren 50 von 344 Ausländern an den norwegischen Folkehogskolen Deutsche.

Die Jugendlichen auf dem alten Gutshof strahlen innere Ruhe und Ausgeglichenheit aus. "Krach gibt es ganz selten", sagt Issam. "Wir haben so viel Spaß hier", ergänzt Tonja, "dass wir an den Wochenenden nicht einmal das Bedürfnis spüren, in eine Disco zu gehen. Stattdessen veranstalten wir unsere eigenen Partys."

Was werden sie von hier mitnehmen? Tonje und Issam, die zum ersten Mal von den Eltern und Geschwistern getrennt wohnen, nennen Schlagwörter wie Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein und vor allem neue Freunde. Wenn man anderen Absolventen glauben darf, deren Schulzeit bereits fünf oder zehn Jahre zurückliegt, sind es vor allem diese immateriellen Werte, die ihren Besuch ausgemacht haben und von denen sie noch immer profitieren.

Auf die Frage, ob sie gern noch länger als bis zum Ende des Schuljahres im Mai hierbleiben würden, antworten beide dennoch mit einem klaren Nein. Nach 33 Wochen Selbstverwirklichung haben sie vorerst genug davon. "Die Zeit hier war echt schön", sagt Tonje, "aber irgendwann langt es." Beide wollen nach dem Ende der Folkehogskole erst einmal etwas Sinnvolles machen: studieren!

Weitere Informationen gibt es bei: Informasjonskontoret for folkehogskolen, Karl Johans Gate 12, 0154 Oslo, Norwegen, und im Internet unter www.folkehogskole.no

 

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